Mittwoch, 30. Oktober 2013

Literarische Kritik: Atemschaukel

Hallo zusammen!

Heute habe ich mal wieder etwas Anderes als sonst für euch im Gepäck und bin gespannt, was ihr dazu sagt. So viel jedenfalls zum Kontext: Ich habe den Text im Rahmen der Übung "Literaturkritik: Theorie und Praxis" als Leistungsnachweis verfasst. Deswegen wurde er auch benotet, habt ihr Lust, den Text einzuschätzen? ☺

Ich kann allen Literaturinteressierten übrigens nur empfehlen, sich mal eingehender mit der Literaturkritik auseinander zu setzen, es lohnt sich wirklich und das Verständnis für vieles Geschriebene verändert sich. Nicht zuletzt dürft ihr diesen nachfolgenden Text als Hommage an den verstorbenen Kritikerkönig Marcel Reich- Ranicki verstehen.

Alles Liebe,

Eure Ding(s)

Die Atemschaukel - Literatur des großen Hungers

Wenn man sie zum ersten Mal sieht, möchte man nicht glauben, dass man solch eine große Autorin vor sich hat. Unscheinbar, klein, ganz in schwarz sah ich Herta Müller bei einer Lesung. Mit geradezu streichholzartigen dünnen Beinen auf hohen Schuhen – und dennoch mit sicherem Tritt. Es erschien mir gänzlich unmöglich, dass eine so zarte, kleine Frau die Schikanen der Securitate und Bespitzelung ertragen und dabei nicht zerbrechen konnte. Doch sie sollte mich eines Besseren belehren.

Kaum sprach Herta Müller, wurde klar, sie hatte sich nicht gebeugt und würde sich auch heute niemandem beugen. Nicht nur sprach sie sehr bestimmt und direkt, vielmehr hatte Müller sich einen Humor bewahrt, wie man ihn nicht überall findet. Es sind die Details, die sie amüsieren, die Details auf die sie achtet. Wie auch in ihrem Roman „Atemschaukel“, erschienen 2009.

Die Atemschaukel beschreibt dabei aber erstmals keine direkten Erlebnisse Herta Müllers. Wie sie in ihrem Nachwort erzählt, kannte sie zwar die Andeutungen und Gefühle, die die ehemals Deportierten – darunter auch ihre eigene Mutter, bei ihr auslösten, doch blieb es bei diesen „verstohlenen Gesprächen“ in ihrer Kindheit. Erst viel später, 2001, begann Müller verschiedenes der Deportierten festzuhalten. So avancierte Oskar Pastior zu ihrem Gesprächspartner für ihr nächstes Werk, das sie sogar gemeinsam zu schreiben beabsichtigte. Pastior jedoch verstarb, bevor diese Idee in die Tat umgesetzt werden konnte und hinterließ eine trauernde Herta Müller, die zunächst einmal Zeit benötigte, um diesen Verlust zu verarbeiten. Schlussendlich entschied sie sich aber dafür, die Geschichte Oskar Pastiors zu veröffentlichen – und die Atemschaukel entstand.

Liest man die Atemschaukel, gelingt es Herta Müller ab dem ersten Satz, ihre Stimme aus dem Buch sprechen zu lassen – selbst, wenn man sie zuvor noch nie gehört hat. Der Roman trägt damit ihre eigene, persönliche Note, auch wenn es Pastiors Erinnerungen sind, die sie verarbeitete. Generell trägt das Werk einen starken Erinnerungscharakter in sich. Zwar beschreiben die ersten Kapitel die Deportation und Verladung in das russische Arbeitslager, doch mit fortschreitender Geschichte werden die Kapitel der Handlung nach immer zusammenhangsloser. Die wachsende Verzweiflung und Resignation werden dadurch aber immer deutlicher, bis sie schließlich in die verwirrte Rückkehr und den gescheiterten Versuch, ein normales Leben zu führen, gipfeln. Dennoch trägt jedes einzelne Kapitel einen wichtigen Teil zur Situation des Protagonisten, Leopold Auberg – der seinen Namen erst auf Seite 43 verrät, bei. Die Kapitelüberschriften haben dabei immer etwas Nüchternes, sie benennen die Protagonisten („Die Kalkfrauen“) oder eine Handlung („Vom Kofferpacken“).

Nüchtern ist dabei auch Müllers Sprache. Abgeklärt, peinlich genau ist sie ganz nah dran und gleichzeitig in großer Distanz. Dadurch wird Leos eigene Distanz zu den eigentlichen Geschehnissen im Lager deutlich, denn er selbst entfernt sich über die Zeit hinweg immer weiter von der Wirklichkeit. Er kann Erinnerungen, mögliche Handlungen, aber auch sein Wissen nicht mehr auseinanderhalten – all dies verdeutlicht allein durch Sprache, der Herta Müller immer wieder Neologismen abknüpft.

Dazu gehört selbstverständlich die „Atemschaukel“. Zu behaupten, es handele sich lediglich um den gleichmäßigen, ausgeglichenen Atem des Zwangsarbeiters, greift dabei zu kurz. Für Leopold Auberg bedeutet sie ungleich mehr. Sie ist sein Werkzeug, seine Mitte, sein Sinn. Ebenso wie die Herzschaufel, die das Schippen für ihn zur Kunst, zum Überleben, macht, ist die Atemschaukel sein gut gewillter Begleiter.

Das Gegenteil davon bildet der ständig anwesende Hungerengel, mit dem es Müller gelingt, auf einfache und doch eindringliche Weise den ständigen Hunger im Lager zu verdeutlichen. Dabei bedeutet es schon fast eine Perversion des Ganzen, dass der Hunger in Gestalt eines persönlichen Engels für einen jeden auftritt, gleich einem Schutzengel. Doch vielleicht ist genau dies die einzige Möglichkeit, auch die Perversion des Arbeitslagers aufzuzeigen. Wenn den Deportierten, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen, ein „weißer Hase“ auf die Wangen wächst, dann stehen sie kurz davor, vor dem Hungerengel zu kapitulieren. Auch Leo stand kurz vor dieser Kapitulation. Sein Glück war jedoch das Ende des fünfjährigen Arbeitslagers, nachdem er zurückkehren konnte.

Eine Heimkehr stellt dieser Schritt für ihn jedoch nur bedingt dar. Zum Einen, weil er sich durch seinen in der Interimszeit geborenen Bruder Robert ersetzt und bedroht fühlt. Weiter, weil er durch das Lager gekennzeichnet, nicht mehr fähig ist, Nähe zu seiner ihm fremd gewordenen Familie aufzubauen. Und zuletzt, weil das Lager ihn niemals in seinem Leben losließ. „Und 60 Jahre später träume ich: Ich bin zum zweiten, dritten, manchmal sogar zum siebten Mal deportiert.“ Diese Alpträume verfolgen den Überlebenden bis an sein Lebensende und erschweren ihm das normale Leben bis in die Unmöglichkeit dieses zu führen.

Zwar versucht sich Leo nach dem Lager mit einer geregelten Arbeit, heiratet sogar ein Mädchen und zieht mit ihr nach Bukarest. Doch all dies erscheint nur als eine Farce, weil Leo sich alsbald wieder in den Parks der Stadt unter dem Decknamen „das Klavier“ mit anderen Männern trifft. Es ist bezeichnend, dass er genau aus diesem Grund zuvor ins Arbeitslager gekommen war, denn in seiner Heimatstadt hatte er Ähnliches unter dem passenden Namen „der Spieler“ getan. Müller enthält sich hier auch jeglicher direkter Wertung – wie sollte es auch eine Möglichkeit geben, die zu diesem Zeitpunkt und Ort verteufelte Homosexualität angemessen zu thematisieren. Für Leopold Auberg erscheint es jedoch nur konsequent, seine Frau schlussendlich zu verlassen, denn ein gemeinsames Eheglück bleibt ihm nicht beschieden. Doch auch alleine, in einem anderen Land findet er keine Erfüllung, da er bereits von seinen Lagererfahrungen vollends erfüllt ist. Ihm bleibt nur noch die Flucht in die Verwirrung, die in Verbindung mit dem allgegenwärtigen Hunger des Lagers treffend zu Ende dargestellt wird: „Ich hole das Kissen vom Sofa und tanze in meinen plumpen Nachmittag. (...) Einmal lag unter dem weißen Resopaltischchen eine staubige Rosine. Da habe ich mit ihr getanzt. Dann habe ich sie gegessen. Dann war eine Art Ferne in mir.“

Inhaltlich geht Müller damit sehr tief, in diesen zugegeben recht einfachen, abgestoßenen Sätzen transportiert sie die gesamte Essenz ihres Werkes; die den Menschen zerbrechenden Lagererinnerungen, den Hunger, die Einsamkeit, die Ironie der Rückkehr in ein behagliches Heim. Doch zugegeben, nimmt man diesen Bedeutungsgehalt von den Worten, bleibt oftmals auch nur eine sehr einfache, plumpe Sprache übrig. Zwar macht gerade dies auch die Eindringlichkeit der Beschreibungen Leos aus, aber sie können bisweilen in Verbindung mit den bedeutungsschwangeren Neologismen übertrieben und gestelzt wirken.

So verwundert es auch nicht, dass Herta Müller neben den zahlreichen Verehrern für diesen Roman auch Kritiker findet. Es ist nun mal eine schwierige Angelegenheit, wenn Grauenvolles geradezu poetisch beschönigt beschrieben wird. Hier stellt sich die Frage, ob das noch angemessen ist. Ob so etwas noch vertretbar ist. Oder ob wir genau dies benötigen, um uns diesem europäischen Kapitel der Vergangenheit nähern zu können, um wieder einen Schritt näher an ein nahezu unmögliches Verständnis zu kommen, das es uns ermöglichen kann, fundiert und bewusst Kritik an dieser Verfehlung zu üben. Zu diesem Bewusstsein trägt Herta Müllers „Atemschaukel“ in jedem Fall einen wichtigen Anteil bei.

1 Kommentar:

  1. Die Kritik macht eins: Lust auf das Buch!
    Ob nun die Kritik gut, schlecht, ausbaufähig ist, kann ich leider nicht sagen (da bin ich nicht tief genug in der Materie drin)... aber ich finde sie lesenswert geschrieben.:)

    Liebe Grüße
    Neomai

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